Doktoratsprojekt wissenschaftliche Forschung

„Alte-Leute-Siedlungen“. Verborgene Potentiale einer vergessenen Wiener Wohnutopie

Christina Schraml

Anfang der 1950er Jahre wurde in Wien ein soziales Wohnexperiment gewagt. Die Stadtverwaltung setzte flache Bungalow-Siedlungen auf die Grünflächen einiger ihrer Gemeindebauten. Die sogenannten „Heimstätten für alte Leute“ wurden als Lösung für die Probleme einer überalterten Gesellschaft gehandelt. Ihre Einbettung in das soziale Gefüge des Gemeindebaus sollte ein selbstbestimmtes, barrierearmes Leben inmitten einer Gemeinschaft ermöglichen. Die „Heimstätten“ variierten in ihrer Umsetzung, hatten aber eine wesentliche Gemeinsamkeit – ihre Architektur kommunizierte mit dem sie umgebenden Außenraum. Die Innenhöfe und Wiesen der Gemeindebauten fungierten damals stärker als soziales Zentrum, das im sozialen Wohnbau der Gegenwart heute oft fehlt. Die Bewohner*innen pflegten im Freien den Kontakt zu Umwelt und Nachbar*innen. Sie konnten sich in unmittelbarer Nähe selbst versorgen. Die „Heimstätten“ basierten auf der Idee, barrierefreies Wohnen und Sozialität durch Architektur zu fördern – ihre Kleinstwohnungen galten als internationales Vorzeigemodell für altersgerechtes Wohnen. Die „Alte-Leute-Siedlungen“ – wie sie der Volksmund schnell taufte – wurden zum Aushängeschild des sozialen Wohnbaus im Wien der Nachkriegszeit und über die Grenzen des Landes hinaus bekannt. Zwanzig Jahre nach der Errichtung der ersten Anlage wich die Stadt jedoch von diesem Modellprojekt ab und konzentrierte sich auf den Bau von Altenheimen. Heute ist das Wohnexperiment vergessen. Selbst die Stadtverwaltung weiß nichts mehr von ihrem einstigen Pionierprojekt. Nur noch wenige Archivmaterialien, Zeitungsartikel und Gebäudehüllen erinnern daran. Ein Großteil der Anlagen existiert noch, erfüllt jedoch andere Funktionen – einige Siedlungen wurden saniert, ihre Wohnungen adaptiert und anderweitig vermietet, andere stehen leer und verfallen. Aus dem Wohnexperiment können Lehren für das städtische Zusammenleben der Gegenwart gezogen werden: Wieder steht Wien vor ähnlichen Herausforderungen wie schon vor 70 Jahren. Wieder durchläuft die Bevölkerung einen Alterungsprozess, der erhebliche Auswirkungen auf Stadt und Gesellschaft hat. Wieder stellen sich die gleichen Fragen: Welche Anforderungen haben alte Menschen an Wohnen und ihr Wohnumfeld? Wie können Gemeinschaft und “gute” Nachbarschaft funktionieren? Das Dissertationsprojekt begibt sich auf die Suche nach den Überresten einer Wohnutopie: Wie war das Modell „Alte-Leute-Siedlung“ angelegt? Was ist davon heute noch übrig? Wie mit dem Bestand umgehen? Welches verlorene Wissen kann reaktiviert und für den heutigen sozialen Wohnbau produktiv gemacht werden?

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